Von der Zapfsäule zum Mobility Hub

Warum sich das Geschäftsmodell der Tankstellen verändern muss 

Zugegeben: Elektromobilität ist ein viel diskutiertes, teils emotionales Thema. Fakt ist: Die Neuzulassungen legten 2019 im Vergleich zu 2018 um 61 Prozent zu. Deutsche Hersteller bieten inzwischen rund 70 Modelle an. „Der Umweltbonus (…) kurbelt zunehmend den Markt an“, beobachtet der Verband der Automobilindustrie. Bis Ende 2021 wird der Kauf von E-Autos bis zu einem Nettolistenpreis von 40.000 Euro mit 9.000 Euro bezuschusst. Bei dieser also durchaus politisch gewollten Agenda stellt sich aber die Frage: Was passiert langfristig mit den Tankstellen? „Die Wettbewerber sind dann nicht mehr nur andere Tankstellen, sondern Lademöglichkeiten während des Shoppings, auf öffentlichen Parkplätzen, beim Arbeitgeber oder zuhause“, warnt MCS-Geschäftsführer Torsten Eichinger.

Zu Recht, wie die 2019 veröffentlichte Studie „Gibt es für Tankstellen eine Zukunft?“ der renommierten Boston Consulting Group beweist: „In einem Marktumfeld, in dem Elektrofahrzeuge, autonome Fahrzeuge und neue Mobilitätsmodelle massiv wachsen, können bis zu 80 Prozent des derzeit bestehenden Tankstellennetzes in etwa 15 Jahren unrentabel sein“, heißt es. Zwar kalkulieren die Berater vier verschiedene Zukunftsszenarien in ihre Überlegungen ein, berücksichtigen Entwicklungen von einem weiterhin massiv dominanten Absatz an fossilen Kraftstoffen bis hin zu einer Mobilität im Zeitalter nach dem Verbrennungsmotor. Doch die Anzeichen, dass es zunehmend in Richtung Elektromobilität geht, verdichten sich. Insbesondere aufgrund der gesetzgeberisch vorgeschriebenen, seit Anfang 2020 in Kraft getretenen CO2-Obergrenzen prognostiziert der aktuelle McKinsey Electric Vehicle Index (März 2020): „Der Anteil deutscher Hersteller an der weltweiten E-Auto-Produktion wird von 18 Prozent im vergangenen Jahr auf 29 Prozent im Jahr 2024 ansteigen.“ Mehr noch: „Damit könnte Deutschland mit über 1,7 Millionen produzierten E-Fahrzeugen bereits 2021 zum Weltmarktführer für E-Autos aufsteigen – knapp vor China.“

Tesla Laden E-Mobilität Tankstelle der Zukunft

Händler drängen Kunden zu E-Autos

Der Druck auf Fahrzeughändler, aufgrund der strikten CO2-Vorgaben samt Strafzahlungen mehr E-Autos zu verkaufen, wächst. „Viele Marken dürften versuchen, massiv E-Autos und Plug-in-Hybride in den Markt zu drücken, um Strafzahlungen zu entgehen“, schreibt die Fachzeitschrift „Autohaus“. „Die Zeit“ berichtet, dass die französische PSA-Gruppe (Peugeot, Opel) ihren Händlern monatliche CO2-Vorgaben mache, an die deren Verdienst geknüpft sei. Auch bei Audi und Ford sollen Händler neue Verträge erhalten, so die Zeitung.

„Die Handelspartner müssen mit höheren Rabatten versuchen, die bisher wenig nachgefragten und teuren Elektroautos an Kunden zu verkaufen“, heißt es im Car-Center Automotive Research, herausgegeben von Ferdinand Dudenhöffer und Karsten Neuberger von der Universität Duisburg-Essen (Dezember 2019). Beim E-Auto-Pionier Tesla schnellte bereits die Zahl an Pkw-Flottenzulassungen 2019 um 439 Prozent gegenüber 2018 hoch. Und beim Leasing- und Fuhrparkmanagement-Anbieter LeasePlan Deutschland gibt es in zwei Jahren nur noch Autos mit Stecker.

Aral beschreibt – und eröffnet in Berlin – die Zukunft

Klar ist: Tankstellen müssen ihr bisheriges Geschäftsmodell überdenken, wenn nicht sogar sich neu erfinden. Die Aral-Studie „Tankstelle der Zukunft“ geht davon aus, dass sich die Tankstelle im Jahr 2040 zu einer „Mobilitätsstation“ gewandelt hat. Die verkehrsgünstige Lage könne unterschiedlichste Mobilitätsangebote nutzenbringend miteinander verknüpfen und neue Dienstleistungsbereiche entwickeln, die aus der Automatisierung, Elektrifizierung und dem zukünftigen Mobilitätsverhalten unmittelbar resultieren, heißt es. „Zukunftsträchtig sind demnach etwa Angebote, die Synergien zu den bestehenden drei Bereichen Shop und Bistro, Tanken/Laden oder Waschen aufweisen. Neue Services werden außerdem begünstigt, wenn sie aus den Besonderheiten der Tankstelle, beispielsweise flexiblen Öffnungszeiten oder Personal vor Ort, einen Vorteil ziehen, den es an anderen Standorten so nicht gibt“, glaubt Aral.

Und „blau“ gibt Gas: Im Oktober eröffneten die Bochumer mitten in Berlin ihren ersten Mobility Hub. Das Wort „Tankstelle“ sucht man in der Überschrift der Pressemitteilung vergeblich. Stattdessen bietet die Station ein ganzes Bündel an „geteilten“-Mobilitätskonzepten: Car Sharing, E-Scooter, Leihfahrräder und direkter Umstieg zum ÖPNV (S-Bahn, U-Bahn, Bus). Ebenfalls vor Ort steht ein Akku-Wechselautomat für eigene E-Bikes, Lastenräder und elektrische Kleinfahrzeuge parat. Zwei Ladestationen für E-Autos mit Leistungen von je bis zu 320 kW sollen Laden „vergleichbar schnell wie Tanken“ machen, verspricht Aral. Wobei das Investment vor Ort mit eigener Microgrid- Pufferbatterie sehr hoch sein dürfte. Dennoch: Der Konzern sieht in dieser Station einen „Umsteigeplatz für verschiedene Verkehrsträger“, inklusive DHL-Paketstation und Convenience-Shop.

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Quelle: Aral AG

Der Druck auf Tankstellen steigt

Für Christian Warning, Geschäftsführer von The Retail Marketeers, sieht so das zukünftige Geschäftsmodell von Tankstellen aus.

„Die Mobilität der Menschen wächst weiter. Damit steigen die Unterwegs-Bedürfnisse Hunger, Durst, Hygiene, Strom- und Internetverbindungen. Tankstellen, die ein entsprechendes Rund-um-Paket anbieten, sind künftig Wettbewerbern wie Supermärkten, Food-to-go-Anbietern und Schnellgastronomen einen großen Schritt voraus.“

Doch das Zeitfenster für Tankstellen, sich zu wandeln, wird kleiner: Lebensmittelhändler und Discounter sind dabei, Millionen in neue Snack- und Gastro-Konzepte zu investieren – Ladesäulen auf den Parkplätzen inklusive. Sogar die ersten McDonald’s-Franchisenehmer bieten ihren Besuchern inzwischen Ladesäulen. Für Tankstellen hat das enorme Folgen: Warning berichtet, dass in Norwegen – ein führendes Land in punkto Elektromobilität – bereits etwa drei Viertel aller Ladevorgänge nicht mehr an Tankstellen stattfänden. Er appelliert: „Es muss jetzt ein Paradigmenwechsel her. Tankstellen müssen sich von To-Go-Angeboten hin zu Go-To-Destinationen wandeln.“ Beispielhaft nennt Warning verlässlich saubere Toiletten, wie Tank & Rast es mit Sanifair zeigte. „Ein guter Grund, lieber an einer Tankstelle zu halten, als bei einem anderen Anbieter.“ Sauberkeit, Sicherheit und Service seien ganz allgemein die Erfolgsfaktoren, Tankstellen zu optimieren. „Wenn ich als Kunde weiß, dass mich eine Station mit einem in sich schlüssigen Gesamtkonzept und Wohlfühl-Ambiente drinnen wie draußen empfängt, diese noch verkehrsgünstig liegt und rund um die Uhr offen hat, dann muss ich nicht mehr zur Tankstelle, sondern dann will ich zur Tankstelle“, gibt Warning die Richtung vor.

Genau das fordert die Boston Consulting Group. Die Branche müsse „von einem auf Fahrzeuge fokussierten Geschäftsmodell zu einem kundenorientierten wechseln, um neue Produkt- und Servicemöglichkeiten zu nutzen“. Jedoch: Nicht überall wird dies funktionieren, sei es vom Standort her oder vom notwendigen Investitionsbedarf. „Ich gehe davon aus, dass es neben dem dargestellten Mobilitäts-Hub mit Voll-Service künftig voll automatisierte Tankstellen gibt“, glaubt Warning. „Mit Sicherheit unterscheidet sich das Bild Urban vs. Land ganz stark in der Zukunft“, formuliert Jan Toschka, Geschäftsführer Retail bei Shell die Situation, die er „in fünf, zehn Jahren“ erwartet.

Convenience auch an den Ladesäulen

Und noch etwas spricht für Elektromobilität: Die Zeit der Märchen und Mythen ist vorbei.  „Die erste Testfahrt in einem Elektroauto ist für viele Erstfahrer ein echtes Aha-Erlebnis“, berichtet Patrick Schaufuss, Associate Partner bei der Unternehmensberatung McKinsey. Als Mitautor der Studie „The road ahead for e-mobility” weiß er: 91 Prozent der E-Auto-Käufer würden sich wieder für ein solches Fahrzeug entscheiden – vor allem wegen des Fahrerlebnisses. „Das kann ich nur bestätigen“, sagt Christian Leu, Bereichsleiter Elektromobilität beim Tankstellenausrüster Tokheim Service. Weil er sich selbst ein Bild machen wollte, fuhr er einen Monat lang einen Tesla. „Danach wieder in den Diesel umzusteigen, war für mich die Rückkehr in die Steinzeit.“ Der Fahrkomfort beim E-Auto setze neue Maßstäbe. Wie übrigens auch die neuste Generation der Ladesäulen: „Für einen durchschnittlichen Ladevorgang reichen 15 Minuten.“ Leu nutzte den Stop an der Tankstelle für den Gang auf die Toilette und den Unterwegs-Konsum. „Vom Konzept her passen Ladestationen bestens zur Tankstelle“, sagt er. „Künftig aber müssen die Gesellschaften den Fahrern mehr Komfort bieten, um sie dauerhaft an sich zu binden.“ Wohl nicht zufällig würden die ersten Marken die Lademöglichkeiten auf die überdachte Fahrbahn zurückholen, statt die Fahrer sprichwörtlich an den Rand des Grundstücks zu verdrängen – um sie hier, fernab vom Shop, möglicherweise im Regen stehen zu lassen. Weiter rät Leu dazu, Schnelladesäulen zu installieren. „Eine staatliche Förderung sollte diese Technologie unbedingt beinhalten.“ Nur rund 15 Prozent aller rund 24.000 Ladepunkte hierzulande (Quelle: BDEW, Januar 2020) sind Schnelladesäulen, für Tankstellen biete sich hier eine Chance.

Mobility Hub Elektro Mobilität Tankstelle der Zukunft

Copyright: The Retail Marketeers 

Mittelständler Herm entwickelt Bestell-App

Bei Peter Herm, Inhaber von mehr als 20 Tankstellen in Nordbaden und Nordbayern, liegen diese Angebote bereits auf dem Tisch. Bislang sind zwar nur an einer Station zwei Ladesäulen im Einsatz. „Doch die Entwicklung ist klar. Immer mehr Zweitautos fahren auch bei uns elektrisch“, so Herm. Was die Zukunft bringen kann, erfuhr der Mittelständler bei einer „Study Tour“ im vergangenen Jahr in Norwegen. „Dort profilieren sich die Convenience-Shops nach den Parolen ,Laden, um zu essen‘ oder ,Essen, um zu laden‘“, beobachtete er. „Für mich überraschend war, dass ein beträchtlicher Teil des Unterwegs-Verzehrs nicht im Bistro, sondern to-go im Auto stattfindet, während die Fahrer aufladen.“ Sei es, weil sie währenddessen vertrauliche Telefonate führten oder einfach nur ihre Ruhe haben möchten. Eine Blaupause für die Herm-Tankstellen, meint der Unternehmer. „Wir arbeiten an einer Bestell-App, mit der unsere Kunden Essen vorbestellen können. Ein Bringdienst zur Ladesäule wird inklusive sein“, lässt Herm wissen. Entsprechend sei „klar“, dass er neue Ladesäulen als Marketinginstrument nutzen wolle.

Total gründet Abteilung „Mobilität & Neue Energien“

Bei den „Großen“ stellt sich der französische Mineralölkonzern Total neu auf. Deutlich macht dies die neue Direktion „Mobilität & Neue Energien“, die Jan Petersen leitet. „Die erste wichtige Aufgabe in meiner neuen Funktion ist der Aufbau eines leistungsfähigen Netzes von Ultraschnellladesäulen entlang der Autobahnen“, gab er bekannt. Bis Ende 2022 wird die Gruppe in Westeuropa an 300 Standorten rund 1.000 Ladepunkte mit Ultraschnellladesäulen installieren. Auf Deutschland entfallen laut Unternehmen knapp 70 Standorte mit rund 200 Ladepunkten. Und eine neu konzipierte und am 1. April dieses Jahres wiedereröffnete Pilot-Station in Berlin. Erstaunlich: sie besitzt eine separate Fahrradspur, die vom Fahrradweg über die klassische Fahrbahn direkt zum Shop führt. Hier lässt zudem ein wohl bewusst gewolltes Experiment im Shopkonzept aufhorchen. Nicht nur, dass es Fahrradzubehör zu kaufen gibt. Das, was Marketing- und Convenience-Experte Christian Warning schon lange fordert, wird bei Total Wirklichkeit: „Bestimmte Kundengruppen wollen ihre Dinge schnell erledigen. Für sie wollen wir die Verweildauer reduzieren“, kommentiert Steffen Eckert, Marketing- und Shopleiter bei Total. Im Handel ist das eine Revolution, plötzlich sind Kunden-Zwangsführungen mitsamt der traditionellen Denke in Warengruppen passé. „Wenn uns mehr als die Hälfte unserer Kunden bis zehn Uhr morgens besucht, wollen wir es ihnen so einfach und schnell wie möglich machen“, beschreibt Eckert den neuen Ansatz. Direkt hinter dem Eingang des Convenience-Stores lockt eine „Mobilitätsgondel“ mit frischem Kaffee, Croissants, Kaugummi & Co. zur Selbstbedienung. Ende des Jahres können Kunden sogar hier selbst bezahlen – und so Zeit sparen. Und statt einer reinen Süßwaren-Stirnseite beinhaltet die „Energiegondel“ eine Mischung aus Eiweißregeln, Müsli, Wasser und Smoothies. 2021 werde man anfangen zu analysieren, wie dieses neue „Mobilitätskonzept“ – sogar eine Schlüsselübergabebox für die in Berlin nicht wenigen Airbnb-Apartments ist künftig geplant – bei den Kunden ankomme.