Smart Stores: DIGITAL, bargeldlos, rund um die Uhr.

Ein Interview mit Prof. Dr. Stephan Rüschen

Noch mögen Smart Stores weitgehend bis komplett automatisierte und digitalisierte, 24/7-geöffnete Einkaufsmöglichkeiten für manch einen "flächenorientierten" Händler Zukunftsmusik sein. Doch der Schein trügt: "Wir werden im Jahr 2030 rund eintausend solcher Standorte zu den Vertriebsschienen des deutschen Lebensmitteleinzelhandels (LEH) zählen", prognostiziert Prof. Dr. Stephan Rüschen.

Der Professor für Lebensmittelhandel an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg am Standort Heilbronn beobachtet die Entwicklung der Smart Stores bundesweit wie international sehr genau. An seinem Bildungscampus sind sogar zwei solcher Systeme installiert. Auch diese weisen die für Smart Stores typischen Merkmale auf: Einkauf ohne Mitarbeiter vor Ort, rund um die Uhr geöffnet, mit 50 bis 200 Quadratmetern relativ kleine („Tiny“) Stores, bargeldlose Bezahlung und Identifizierung der Kunden am Eingang – beispielsweise per App, Kundenkarte oder Ausweisfoto.

 

SELBST DIE POLITIK MACHT MIT

Rüschen zählt derzeit 90 unterschiedliche Anbieter und Konzepte in Europa, davon alleine im deutschen Markt mehr als 50. Noch im März 2021 waren es 25. „Im Prinzip kommt jede Woche ein neuer hinzu“, betont er. Die Vielfalt ist immens: Angefangen von einfachen Verkaufsautomaten (wie dem „Regiomat“) über ganze Automaten-Läden (etwa „Twenty47“ am Freiburger Hauptbahnhof) bis hin zu roboterähnlichen Ausgabeautomaten (zum Beispiel VPS Roberta), kleinen Läden mit Self-Checkout (etwa „Tante M“) bis zu vollständig digitalisierten Stores, die mit künstlicher Intelligenz arbeiten. „Es ist schwer, da den Überblick zu behalten“, gibt er selbst zu. Deshalb protokollieren wir das.“ Tatsächlich halten er und sein Team beispielsweise fest, wie am jeweiligen Standort der Zugang zu welchen Zeiten erfolgt, wie Kunden bezahlen können, welche Technologiepartner an Bord sind und wie viele Artikel es im unbemannten Shop zu kaufen gibt. 

© Prof. Dr. Stephan Rüschen
© Prof. Dr. Stephan Rüschen

Alles Kriterien, die sich unterscheiden. „Während städtische Standorte auf Laufkundschaft und Convenience setzen – also Getränke, Süßwaren, Sandwiches, setzen die Betreiber auf dem Land darauf, alle Warengruppen mit wenigen Artikeln abzudecken“, beobachtet der Wissenschaftler. Insofern schwanke die Artikelzahl zwischen 200 und 2.000. Rüschen berichtet, dass der Roll-out auf dem Land bereits begonnen habe, oft gefördert von der jeweiligen Landespolitik. Denn nicht selten inkludieren Politiker die Einkaufsmöglichkeit vor Ort zur Daseinsvorsorge – wohlwissend, dass sich ein klassischer Markt mit Mitarbeitern nicht rechnet. Die – wie in vielen Branchen – auch im Handel fehlenden Fachkräfte verschärfen das Problem. Ein durch-digitalisierter Laden spiele den Befürwortern da in die Hände, zumal dieser nicht unter das Ladenschlussgesetz fällt – und 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche öffnen kann. 

DER TREND WIRD DEUTSCHLAND EROBERN

Einige „Große“ im LEH stellen sich der Entwicklung. Sicherlich verstärkt Amazon den Druck – schließlich eröffnete Anfang 2021 „Amazon Go“ in London. Die Medienresonanz war auch hierzulande immens. Dass die Wahl ausgerechnet auf Großbritannien fiel, ist für Stephan Rüschen kein Zufall: „Die Verbraucher dort nutzen Technologien beim Einkaufen viel intensiver. Self-Scanning beispielsweise ist dort der Normalfall. Wir können vom Ausland lernen, was man mit Technologien machen kann, wenn die Kunden diese in der breiten Masse akzeptieren.“ Traditionell sei man in Deutschland zurückhaltender, „aber wir werden englische Verhältnisse bekommen“. Bargeldloses Bezahlen und verschiedene Formen des Self-Checkout würden auch hierzulande Realität. Das sehen offenbar beide Aldi-Gesellschaften auch und eröffneten in London und Utrecht einen „Aldi Shop & Go“. „Nicht unbedingt, weil Aldi reihenweise solche Märkte eröffnen möchte“, glaubt Rüschen. Vielmehr gehe es wohl darum, dass der Discounter die Technik, einen solchen Shop zu betreiben, verstehen wolle. Dann nämlich stelle sich die nächste Frage: Ob es möglich sei, diese von der 370-Quadratmeter- Größe in Utrecht auf die hierzulande üblichen, rund 1 000 Quadratmeter inklusive Nonfood, zu transferieren. Dabei könne sich der Handel dem Interesse großer Technologie-Player sicher sein: „Deren Bereitschaft ist da.“ Knackpunkt: Der Finanzbedarf. Laut Rüschen könne man für einen kleinen Store oder eine große, roboterähnliche Ausgabebox 200 000 bis 400 000 Euro kalkulieren. Wobei das Konzept „Tante M“, dessen Outlets der MCS-Partner Utz beliefert, deutlich darunter liegt. Es ist ein kleines, einfach zu stemmendes Shopkonzept, welches sich von Strategie und Sortiment auf ländliche Regionen fokussiert. Eine Spezialisierung, die Stephan Rüschen als sinnvoll betrachtet, „Das lässt sich einfacher multiplizieren“. Für die mit künstlicher Intelligenz (KI) getriebenen Lösungen, wie sie eben Aldi und in gewisser Weise Rewe mit dem hybriden Format „Pick & Go“ in Köln einsetzt, seien jedoch ganz andere Größenordnungen zu kalkulieren. „Doch sobald diese Läden in Serie gehen, ist die KI bezahlt und es geht nur noch um Massenartikel wie Kameras und elektronische Preisschilder.“

EINE CHANCE FÜR TANKSTELLEN?

Und wie sehr experimentieren Mineralölgesellschaften mit Smart Stores? „Da sehen wir wenig“, konstatiert Rüschen. „Tankstellen benötigen eine eigene Strategie. Zuvor aber müssen sie erst einmal klären, wie sie sich überhaupt langfristig aufstellen wollen, Stichwort Mobilitätswende.“ Klar sei, dass die Frequenz der Stationen abnehme. „Aber der Kunde, der künftig da ist, bleibt länger.“ Smart Stores könnten insofern eine Lösung sein, als dass vor allem das Personalproblem die Gesellschaften dazu zwinge, über neue Ansätze nachdenken zu müssen. Bis dahin empfiehlt er den Tankstellenbetreibern, die Lernkurve im LEH zu beobachten: „Das Diebstahlproblem, welches in einem höheren Maße als beim Self-Scanning vorhanden ist, gilt es nachhaltig zu lösen.“ Rüschen erwartet künftig in Echtzeit überwachte Bestände. Zudem würden viele große Händler die Herausforderungen der kleinteiligen Logistik unterschätzen. „Hier sind Convenience-Spezialisten wie die MCS im Vorteil“, lobt er. Eben weil es noch so viele Herausforderungen gibt, rechnet er in den nächsten bis zu drei Jahren mit noch mehr Playern am Markt – sowohl von Handels-, als auch von Technologieseite aus. „Dann gibt es eine Konsolidierung“, erwartet er. Wobei diese relativ ist, der Wissenschaftler rechnet mit „maximal 50 unterschiedlichen Konzepten und Anbietern“, hält in der Umsetzung jedoch Franchisemodelle für denkbar. Elementar aber sei es, bei der Eröffnung jedes neuen Smart Stores die Kunden mitzunehmen: „Anfangs sollten Mitarbeiter vorhanden sein, die die Funktionsweise erläutern und Vertrauen in diese Technologie vermitteln“, rät er. Oder anders formuliert: „Die Customer Experience muss so gut sein, dass die Kunden gerne in dieser Art von Läden einkaufen.“